Es sind ungewöhnliche Bauarbeiten in einer ungewöhnlichen Zeit: Am linken Gebäudeflügel der blockartigen Privatschule mit dem Namen "Harmonie" stapeln Männer Sandsäcke und bringen Baumaterial in Schubkarren. Tatiana Protsenko beobachtet die Umbauarbeiten mit dem wachsamen Blick einer Schuldirektorin. Hier, erklärt Protsenko, entsteht der Schutzraum, den Schulen in der Ukraine seit dem Krieg haben müssen. Mit Brandschutzausrüstung, Lebensmitteln, Medikamenten und Internet, und ohne Fenster – so die offiziellen Vorgaben.

Eine Schule in Tschuhujiw.

Foto: APA/AFP/SERGEY BOBOK

In Bildungseinrichtungen, die diese Vorgaben nicht einhalten, darf der Unterricht am 1. September nur online stattfinden. "Es wird kein unterirdischer Schutzkeller werden", sagt die 68-Jährige. Dafür fehlen der Schule wenige Wochen vor Beginn des Schulunterrichts nicht nur die Zeit, sondern auch die finanziellen Mittel. "Ich investiere mein eigenes Geld in den Bau des Schutzraums, denn seit dem Krieg sind wir als Schule bankrott", so Protsenko. Seit dem Krieg können sich viele Familien die Schulgebühren von umgerechnet 430 Euro im Monat nicht mehr leisten.

Zurück zum Offline-Unterricht

In den vergangenen sechs Monaten Krieg ist ein großer Teil der knapp viereinhalb Millionen schulpflichtiger ukrainischer Kinder ins Ausland oder in andere Landesteile geflohen. Im Fall der Privatschule "Harmonie" befinden sich 70 Prozent der einst 420 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen sechs und 17 Jahren außer Landes. Und nicht nur sie. Auch ein Teil des Lehrpersonals. Laut der Abteilung für Bildung und Wissenschaft der Stadtverwaltung von Odessa gab es in der Oblast bereits vor dem Krieg einen Lehrkräftemangel.

Eine Schule in Mariupol.
Foto: IMAGO/Ilya Pitalev

Das Defizit werde in den kommenden Wochen und Monaten weiter zunehmen – vor allem dann, wenn die Schulen zum Offline-Unterricht zurückkehren. "Der Online-Unterricht, den wir seit der Pandemie haben, hat uns zwar bis zu einem gewissen Punkt dabei geholfen, mit den Schwierigkeiten des Kriegs umzugehen", so Direktorin Protsenko. "Aber wir merken, dass die Schüler seither große Lernschwierigkeiten haben."

An einem Freitag im August versammeln sich in der Privatschule im südlichen Bezirk der Stadt Odessa deshalb besorgte Eltern und beraten darüber, ob sie ihre Kinder in Kriegszeiten in die Schule schicken sollen. Für viele ist das ein riskantes Unterfangen. Schließlich wurden in den vergangenen sechs Monaten Bildungseinrichtungen im ganzen Land bombardiert: Mehr als 2.300 wurden durch Bomben und Beschuss beschädigt, davon 286 vollständig zerstört.

Eltern in Sorge

"Meine größte Sorge ist, dass ich meinen Sohn in die Schule schicke und es dann eine Explosion gibt und ich ihn nicht abholen kann", erklärt Katerina Koposowa, eine der anwesenden Mütter. Gemeinsam mit ihrem achtjährigen Sohn ist die 33-Jährige im März in die Republik Moldau geflüchtet, die an die Oblast Odessa grenzt, mittlerweile aber wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. "Ich bin sogar dazu bereit, mit meinem Kind in die Schule zu kommen. Einfach nur, damit ich nicht zu weit von ihm entfernt bin." Wie die übrigen anwesenden Eltern wünscht sich auch Koposowa, dass ihr Sohn wieder persönlichen Kontakt mit anderen Kindern hat. Artem Wolkow, der 38-Jährige Vater zweier Töchter, hat seine Entscheidung bereits getroffen: "In unserem Wohnhaus gibt es keinen Schutzkeller. Meine Kinder sind also in der Schule viel besser aufgehoben als zu Hause."

Eine Schule in Kostjantyniwka.
Foto: APA/AFP/ANATOLII STEPANOV

Während die Vorgaben zur Unterrichtssprache an den öffentlichen Schulen klar sind, diskutieren die anwesenden Eltern vorsichtig darüber, ob in der Privatschule weiterhin Russisch gesprochen werden soll. "Wir sind keine öffentliche Schuleinrichtung, deshalb können wir über unsere Unterrichtssprache selbst entscheiden", erklärt Protsenko. "Einige Eltern haben sich bereits bei mir gemeldet und gesagt, dass sie wollen, dass ab nun die ukrainische Unterrichtssprache verwendet wird. Andere wünschen sich, dass die russische Sprache bleibt. Und ich würde mir wünschen, dass es zumindest einige fakultative Kurse in Russisch gibt."

Heikles Thema Sprache

Gerade in Odessa ist das Sprachenthema ein heikles. Zwar glaubt Putin, ein historisches Recht auf die gesamte Ukraine zu haben, doch Odessa hat in dieser Vorstellung immer einen besonderen Platz eingenommen. Die Stadt war während der Sowjetära Bestandteil der russischen nationalen Identität und bekannt für ihre Verbindung zu Literaten wie Puschkin. Während ein großer Teil der Bewohner – darunter auch der Bürgermeister der Stadt – das Gefühl der engen kulturellen Verbundenheit mit Russland bis zum Kriegsbeginn teilte und der ukrainische Patriotismus bis dahin oft nur schwer Fuß fassen konnte, hat sich die Einstellung vieler Einwohner mittlerweile verändert.

Eine Schule in Charkiw.
Foto: APA/AFP/SERGEY BOBOK

"Ich habe aufgehört, russischsprachige Nachtrichten zu schauen", erklärt Koposowa. "Aber zu meinen Verwandten in Russland habe ich noch immer Kontakt. Sie sagen, dass sie wissen, was die russischen Truppen in der Ukraine anrichten. Es ist sehr schwierig. Ich fühle mich als Ukrainerin. Aber ich möchte, dass mein Sohn in seiner Muttersprache unterrichtet wird."

Besatzer wollen russische Lehrkräfte holen

Der Krieg zerrt an den sozialen Einrichtungen des Landes, und das Bildungswesen gehört zu den größten Opfern. Moskau betreibt in den besetzten Gebieten eine intensive Russifizierung. Deshalb wirkt Russland auch auf das Bildungswesen ein. Dieses müsse korrigiert werden, so der russische Bildungsminister Sergej Krawzow am 28. Juni bei einem Treffen der Partei Einiges Russland von Präsident Wladimir Putin. Laut internationalen Medien wie dem britischen "Guardian" soll Russland Hunderten von Lehrern Geld versprochen haben, damit sie im kommenden Schuljahr in die besetzte Ukraine reisen und den dortigen Schülern einen "korrigierten" Unterricht erteilen, der die Geschichte der Ukraine aus russischer Sicht darstellt. Damit soll den Ukrainerinnen und Ukrainern nicht nur ihre Sprache, sondern auch ihre nationale Zugehörigkeit genommen werden.

Eine Schule in Tschuhujiw.
Foto: EPA/SERGEY KOZLOV

Für Schuldirektorin Tatiana Protsenko steht fest: "Wir werden das Land wiederaufbauen, so wie wir es schon so oft in der Geschichte getan haben. Aber die größte Sorge, die wir haben, ist, dass die geflohenen Familien mit den Kindern nicht mehr zurückkehren. Die junge Generation können wir nicht ersetzen." (Daniela Prugger aus Odessa, 24.8.2022)